Ein Sandstrand

Sie ist nicht sehr gesprächig, aber warum sollte sie das auch sein? Ich meine als Scherbenengel werden nicht gerade viele mit ihr gesprochen haben und da ist sie wahrscheinlich das Allein sein gewohnt.
Luca war für einige Zeit wieder ruhig, doch eine Frage war da noch, die ihn brennend interessierte:" Ich bin bis jetzt nur einem Scherbenengel begegnet. Du bist die Zweite, aber es gibt da etwas, was ich noch zu gerne erfahren würde. Deine anderen Persönlichkeiten, die kennst du ja alle. Wie heißen die denn und wie sind die so drauf?"

Das war mal eine seltsame Frage...aber sie würde antworten, was hatte sie denn zu verlieren?
"Da wäre Diana, die Kriegerin. Solltest du je in der Nähe sein, wenn sie die Kontrolle hat, verschwinde so schnell du kannst. Sie ist gefährlich und eiskalt. Ganz anders als Lucy. Sie ist ein kleines Mädchen, lieb, offen und sie schließt schnell Freundschaften. Kyle ist der Beschützer, er beschützt alle anderen vor Schaden. Er ist sehr ruhig und nachdenklich, eine Art Familienoberhaupt. Und...dann ist da noch Rose. Sie hat sich selbst aufgegeben, eine traurige Seele. Vielmehr als weinen tut sie nicht."
Warum er das wohl wissen will?

"Wow, also ganz ehrlich, das ist faszinierend. Wie unterschiedlich jede Persönlichkeit ist und doch alle in einem Körper wohnen."
Das ist wirklich interessant, ich frage mich wie die anderen abscheulichen Persönlichkeiten des Scherbenengels, der meine Familie angegriffen hat, geheißen haben. Ich werde sie alle vernichten, soviel steht fest.
Seine Gedanken wurden wieder rachedürstiger, schwärzer und düsterer, doch er versuchte sie so gut als möglich für den Moment beiseite zu schieben. Wieder kehrte Ruhe ein, nur das angenehme Rauschen der Wellen und das Pfeifen des Windes waren zu hören. Zwei Geräusche, die beruhigend und sanft auf Luca einwirkten.

Lilith sah ihn nachdenklich an. Er schien immer wieder mit sich zu kämpfen, als ob er etwas verhindern wollte.
"Im Prinzip sind sie alle 'ich'. Es sind einfach Teile meiner Persönlichkeit, die sich abgespalten haben und ein Eigenleben führen"
Sie zuckte zusammen, als ihr die Kontrolle entglitt. Soviel zum Eigenleben, dachte sie noch.
Ihre Haltung wurde lässiger aber zugleich straffer und in ihre ängstlichen Augen trat nun ein ruhiger, nachdenklicher Ausdruck.
Als sie sprach, war ihre Stimme tiefer als sonst, ein anderer Unterton schwang darin mit. "Was willst du von Lilith?", fragte Kyle,
der nun die Kontrolle hatte.

Klar, dass jetzt eine Persönlichkeit kontrollieren will ob ich Lilith eh nichts tun will.
Mit freundlicher, aber bestimmter Stimme antwortete Luca:" Hi Kyle! Ich bin Luca. Freut mich. Glaub mir ich habe nicht die Absicht auch nur irgendwem, weder Lilith, noch Rose, Diana, Lucy oder dir etwas zu tun. Ich bin einfach nur hier."
Seine Flügel waren nun zusammengefalten und man konnte sie nicht mehr sehen.

Kyle dachte darüber nach. Nachdenklich blickte er den jungen Mann an, bis er schließlich nickte.
"Für den Augenblick traue ich dir", mit diesen Worten zog er sich zurück und übergab Lilith wieder die Kontrolle.
Sie blinzelte, als sie plötzlich wieder an der Oberfläche war. "Wie ich das hasse", murmelte sie.

"Das kann ich nachvollziehen", gab er mitfühlend zu.
"Aber trotzdem finde ich es ziemlich interessant deine Persönlichkeiten kennenzulernen, wirklich. Kyle wirkt sehr...nachdenklich und ruhig, aber auch bestimmend und eben so wie ein Familienoberhaupt. So wie du ihn beschrieben hast", antwortete er und lächelte leicht.

Sie zuckte mit den Schultern. "Kyle ist in Ordnung. Aber glaub mir, du willst nicht alle kennenlernen"
Nicht alle sind so ruhig und freundlich wie Kyle...
"Warum redest du eigentlich mit mir?", wollte sie dann wissen.

Die Frage überraschte ihn, überraschte ihn wirklich.
Luca überlegte länger bis er schließlich doch eine Antwort gab:" Weil...weil ein Scherbenengel früher einmal mein ganzes Leben zerstört hat. Ich möchte mich davon überzeugen, dass es auch andere gibt, andere Scherbenengel, die eine "reine" Seele haben, die niemanden etwas böses wollen. Vielleicht kann ich mich so auch selbst wieder heilen."
Er ließ den Kopf hängen und sah dann aber wieder auf. Er verstand selbst nicht, warum er so ehrlich war, aber was blieb ihm übrig? Lügen war noch nie seine Stärke gewesen. Seine Worte zuvor waren wirklich aufrichtig gewesen, doch er nahm an, dass Lilith sich darüber entweder nur lustig machen würde oder ihn nicht verstehen würde.

Lilith hörte ihm still zu, überrascht von seiner Ehrlichkeit.
"Es tut mir Leid",ihre Stimme war traurig. "Ich...weiß nicht ob du mit der richtigen Person redest. Ich glaube nicht,dass meine Seele rein ist.."
Sie drehte den Kopf weg. "Aber...etwas Böses will ich niemandem", murmelte sie.
Ich wollte nie so sein, ich wünschte mein Vater würde noch leben...

Luca sah genau in ihre Augen, die so...so gespalten, undurchdringlich wirkten.
"Das werden wir noch herausfinden", sagte er nun wesentlich entspannter.
"Aber bis jetzt durfte ich ja schon zwei Persönlichkeiten kennenlernen und beide erscheinen mir äußerst rein."
Habe ich gerade einem Scherbenengel ein Kompliment gemacht? Hallo? Was ist mit mir los?
Er schüttelte leicht den Kopf.
Die Sonne stand hoch über dem Meer und erwärmte den Sand. Luca war erschöpft von der Reise hierher und setzte sich nun in den Sand, während er seine Füße leicht in das herangespülte Wasser stellte und diese immer wieder von einer Welle gestreift wurden. Er überließ es Lilith ob sie sich setzen wollte oder nicht.

Das werden wir noch herausfinden...'Wir'?
Sie ließ sich mit etwas Abstand zu Boden sinken, das kühle Wasser strich über ihre nackten Füße.
Ihre farbenfrohen Flügel schillerten im Sonnenlicht wie tausende Diamanten. Nachdenklich sah sie zu ihm.
War das mit dem rein ein Kompliment gewesen? Nein, das wäre zu seltsam.
"Wenn du meinst...du hast ja Diana noch nicht kennengelernt", seufzte sie.

"Mit ihr werde ich auskommen, glaub mir. Wenn sie mich angreift, verliert sie, denn sie mag vielleicht geschickt und gewandt sein, auch stark, aber kampftechnisch wäre ich ihr überlegen. Ich glaube auch, dass man Diana, zumindest von dem was ich von dir weiß, nicht mit Ruhe oder gut zureden besiegen kann, sondern nur mit mehr Kraft, aber natürlich weiß ich nicht wirklich viel über sie. Vielleicht fordere ich sie dadurch auch gerade heraus, aber ich....ich war..." Luca stoppte sich, fast hätte er über seine Vergangenheit gesprochen, doch er vermied es, schon immer vermied er es.
"Jedenfalls stelle ich mir ein Treffen mit ihr sehr interessant vor."

Soo, tut er das? Die kalte Stimme in ihrem Kopf gehörte Diana.
Lilith schüttelte den Kopf um sie loszuwerden. "Du kannst sie nicht einfach besiegen. Sie...fühlt nichts. Sie ist eiskalt und präzise. Jeder Hieb sitzt und Gnade kennt sie nicht. Diana ist nicht einfach eine Kriegerin, sie ist die Meisterin. Bitte, sprich nicht so von ihr, das reizt sie dich anzugreifen...sie versucht gerade die Kontrolle zu bekommen"

"Lilith, glaub mir, ich bin ebenfalls ein Krieger und ich war einer der besten, wenn nicht der Beste und bin es noch immer. Du weißt was ich bin: ein Racheengel und Racheengel verfügen nicht über die Eigenschaft Gnade."
Er verstummte wieder und antwortete dann:" Deine Persönlichkeit hat sich also einmal gespalten in einen Charakter, der nur gnadenlos und hart ist."
Ob Diana böse ist oder einfach nur eine Kriegerin, die Lilith beschützen will?

Interessant...er ist ein Krieger und hält sich für den Besten. Diana schien beinahe amüsiert.
"Ich glaube dir ja, Luca", sagte Lilith leise. Über seine zweite Aussage musste sie nachdenken. "Gnadenlos und hart, ja, aber sie...es ist schwer zu erklären. Sie ist zwar eiskalt und gnadenlos, aber sie hat noch nie jemanden grundlos attackiert. Bevor sie angreift gibt sie jedem die Chance davon zu laufen...ich schätze in dieser Hinsicht ist sie gnadenvoll, aber sollte jemand nicht von dieser Chance Gebrauch machen, wird sie ihn töten"

"Verstehe, es gibt da nur noch eine Sache, die ich nicht ganz verstehe. Ist sie einfach so....naja, wie soll ich sagen, bösartig oder will sie nur dich und die anderen Persönlichkeiten verteidigen, durch Gewalt?"
Er sah sie fragend an. Schon jetzt, ohne, dass er Diana kannte, war sie ihm suspekt und er konnte sie nicht leiden.
Diana ist vermutlich eine überemanzipierte Frau bzw. Mädchen, die keine Ahnung vom Leben oder sonst was hat außer vom Kämpfen, immer nur kämpfen, töten und sich viel auf sich selbst einbilden. Warum hege ich jetzt schon so einen Hass gegen sie? Ach ja, weil sie ja jedem eine "Chance" lässt mit Weglaufen, dass ich nicht lache.
In seinem Innersten machte er sich schon fast lustig über Diana, doch ihm war klar, es war vermutlich eine Kriegerin, die man nicht unterschätzen durfte. Jedoch drang von seiner Amüsiertheit nichts an die Oberfläche, nur in seinen Augen war ein Flakern.

Dieser Pimpf...sieh dir das Flackern in seinen Augen an, er macht sich lustig. Diana schien nicht sehr erfreut.
"Bösartig? Nein, das ist sie nicht. Sie ist sozusagen die Unterstützung von Kyle. Er wählt wer 'uns' nahekommen darf und Diana ist diejenige, die alles vertreibt was mir und den anderen schaden könnte. In ihrem Fall, mit Gewalt", erklärte Lilith geduldig.

"Verstehe", antwortete er ruhig.
"Da hätten wir ein Problem weniger. Ich habe nicht vor dir zu schaden", fügte er hinzu ohne mit der Wimper zu zucken. Natürlich war ihm bewusst, dass er die ganze Zeit Diana ein wenig provoziert hatte, doch es war ihm eigentlich egal, denn er wollte Lilith wirklich nicht schaden oder irgendeiner anderen Persönlichkeit. Das sah man Luca auch an.
"Ich wollte dich nicht so ausquetschen über deine Persönlichkeiten, nur ist es so, dass es in gewisser Weise faszinierend ist, wie unterschiedlich jeder ist."
Luca wusste, dass ein Scherbenengel, so wie ein Racheengel, wieder zu einem reinen Engel werden kann, jedoch ist es viel Mühe und Aufwand, den jemand muss sich dem Scherbenengel annehmen und jede Persönlichkeit ins Gleichgewicht bringen, das bedeutet mit jeder Persönlichkeit gut auskommen und das Problem, dass diese hat, lösen.

"Ich antworte lieber auf Fragen, als dass ich durch die Gegend gejagt und beschimpft werde", sagte Lilith müde lächelnd.
"Das es faszinierend ist, kann ich mir vorstellen, es ist wohl als ob man fünf Leute auf einmal kennenlernen würde, aber alle in einem Körper sitzen"
Und alle wollen ihn kontrollieren...
Sie musterte den jungen Mann neben sich. Er war ein schöner Mann, das musste sie zugeben.

"Du hast Recht, genauso ist es."
Luca lächelte ebenfalls und ließ sich nach hinten in den weichen Sand fallen.
Sein weißes Hemd war aufgeknöpft, wie es das meist war und seine gebräunte Haut kam zum Vorschein. Er schloss für einen Moment die Augen, machte sie aber im nächsten mit einem Schlag wieder auf.
Ihm fiel auf, dass Lilith, die zwar ein wenig schüchtern und vom Leben enttäuscht wirkte, trotzdem eine Schönheit ausstrahlte, die atemberaubend war. Ihre braunen Augen zeigten so unterschiedliche Facetten und durch ihr braunes beinahe schwarzes Haar fuhr ein sanfter Windstoß. Die Sonne ließ ihre blasse Haut leicht glitzern.
Luca wandte sich ab um ihr nicht den Eindruck zu vermitteln, als würde er sie anstarren.

Lilith ließ sich in den Sand sinken, ihre bunten Schwingen ausgestreckt.
Sie spürte seinen Blick auf sich und sah zu ihm, gerade noch rechtzeitig um ihn den Blick abwenden zu sehen.
Die Wellen schlugen gegen ihre Füße und überzogen sie mit erfrischender Kühle.
Ihr Blick wanderte über Lucas gebräunte Haut, ein starker Kontrast zu ihrer eigenen blassen Haut.
Seufzend sah sie zum Himmel auf. Es war warm und sie begann in ihrem schwarzen Oberteil zu schwitzen.
Sie richtete sich halb auf und zog den Pullover über den Kopf, sodass sie nur noch in ihrem Netzhemd und den Jeans dasaß.
Gedanken machte sie sich keine, sie dachte nie großartig über ihr Aussehen nach. Sowas wurde unwichtig, wenn man sich mit vier anderen
Persönlichkeiten rumschlagen musste.

Im Augenwinkel nahm er die Bewegung von Lilith war und wandte sich mit seinem Blick so unauffällig wie möglich wieder zu ihr und beobachtete, wie sie ihren schwarzen Pullover anscheinend auszog.
Rasch richtete er seinen Blick wieder geradeaus, als wäre es ihm unangenehm.
Jedoch schnell konnte er nicht mehr anders und sah wieder Lilith an. Nun hatte sie nur noch ein Netzhemd und Jeans an und ihm schien, als wäre sie schöner denn je durch ihre unglaubliche Natürlichkeit.
Lass dich nicht ablenken! Ich darf mich wirklich nicht ablenken lassen. Ich sollte wieder geradeaus schauen...aber sie ist so schö...nichts aber, gerade aus schauen, punkt, schluss, ende.
Sein Blick auf das Meer wurde starr und er zwang sich nicht die ganze Zeit Lilith anzusehen. Es war ihm selbst zuwieder sich so zu quälen, jedoch wollte er keinen falschen Eindruck entstehen lassen.
Über seinen Gedankenkampf musste er plötzlich lachen, denn es war wirklich nur mehr lachhaft.

Verwirrt sah Lilith zu ihm. Was ist denn so lustig?
"Was ist denn so witzig?", fragte sie ihn unsicher. Sie sah an sich herunter, konnte aber nichts entdecken, das irgendwie zum Lachen wäre.
Sein Blick war immer wieder zu ihr gehuscht, aber er hatte sich immer wieder abgewandt und starrte nun aufs Meer hinaus. Sie hatte nicht
die leiseste Ahnung was mit ihm los war.

"Ach, ich hab nur an etwas witziges gedacht", antwortete er neutral, ohne Hintergedanken.
Er richtete sich nun wieder auf aus seiner liegenden Position und saß aufrecht im Sand um besser die Wellen und das reflektierende Licht zu beobachten.
"Das Meer war immer schon der Ort, der mir am besten gefiel", sagte er einfach ins Blaue hinein, ohne nachzudenken, was er gerade sagte.
"Magst du lieber den Wald, das Meer, die Wiesen, Gärten, Räume oder etwas anderes?" Er sah sie neugierig an.