Ein Sandstrand

Luca war ein wenig verwundert, doch eigentlich ergab es doch Sinn.
"5 mal ist wirklich wenig, aber was ist ihr so schreckliches wiederfahren? Ich meine die einzigen, die mir bis jetzt schon gesagt haben, warum sie sich damals abgespalten haben, war eigentlich nur Lucy und du."
Er verstummte wieder und flüsterte dann fast nur mehr unverständlich:" Eigentlich geht es mich ja nichts an, aber ich habe diesen Drang dir irgendwie zu helfen."

Er..will mir helfen?
Ein leichtes Glücksgefühl durchflutete sie und sie antwortet ihm. "Es ist in Ordnung. Frag einfach. Wenn ich nicht antworten will, tue ich es nicht" Tief atmete sie durch, bevor sie mit der Geschichte von Rose begann. "Damals war sie mit einem Jungen zusammen. Alex. Er war ihre erste Liebe. Bei einem Angrff starb er, weil er sich vor sie stellte und den tödlichen Stoß abfing. Sie konnte nichts für ihn tun, konnte ihn nicht retten. Er war unwiderruflich tot. Sie kam sich so nutzlos vor, so allein, so schuldig"

Er sah sie fast selbst schon traurig an, weil er sich kaum vorstellen konnte, wie schrecklich es für Rose damals wohl gewesen war.
"Aber Diana nehme ich an, existierte damals noch nicht oder? Weil sonst hätte sie ihn ja verteidigt oder ist es bei den Persönlichkeiten so, dass jeder jemand anderen liebt oder wenn eine jemanden liebt, dass dann alle ihn lieben?"
Luca ließ die Worte nochmals durch seinen Kopf wandern und kam darauf, wie unsinnig sie klangen.
"Verzeih mir, aber ich weiß es nicht besser zu formulieren."

Lilith lächelte traurig. "Diana existierte damals noch nicht. Und selbst wenn...ich weiß nicht ob sie ihn geschützt hätte. Mit Sicherheit hätte sie aber die Angreifer erledigt, schließlich galt der Stoß uns. Zu den Persönlichkeiten: Wir alle entscheiden selbst wen wir inwiefern mögen. Aber...eins musst du verstehen. Rose, Lucy, Kyle, Diana...sie alle sind ich. Teile meiner ursprünglichen Persönlichkeit" Sie überlegte. "Es ist schwer zu erklären...stell es dir so vor: Es gab einmal "nur" Lilith, ihre Seele war intakt. Aber mit jedem schlimmen Ereignis spaltete sich ein Teil ihrer Persönlichkeit ab. Rose ist ich, mein Ich von damals, als ich Alex verlor. Lucy ist das Kind das ich war, das niemals lachen durfte"

Luca hörte ihr äußerst aufmerksam zu um wirklich ihr Innerstes zu verstehen.
"Ich begreife langsam, was war mit Kyle, welches Ereignis war die Ursache für seine Spaltung von deiner ursprünglichen Seele?"
Sein Blick zeigte im Moment viele Facetten. Einerseits war da Mitleid, andererseits Mitgefühl, dann war da noch ein Hauch von Traurigkeit, aber auch ein wenig Erschöpftheit noch vom Kampf und irgendwo versteckt war diese Hilfsbereitschaft, die es ihm schwer machte mit der Rache in sich klarzukommen.

Lilith dachte nach. "Kyle...das war..." Es war lange her und sie musste sich stark bemühen um sich zu erinnern.
Dann fiel es ihr ein. "Das war als ich 11 Jahre alt war. Ich traf eine kleine Dämonin. Sie hieß Viper. Man hatte sie aus der dunklen Welt verstoßen und nun war sie hier, gejagt von Engeln. Sie war völlig erschöpft, beinahe verhungert und überall verletzt. Ich hatte Mitleid mit ihr und pflegte sie. Ich brachte ihr Essen, Trinken und versorgte ihre Wunden, so gut wie es ging. Aber...das half nichts.
Eines Morgens kam ich zu ihrem Versteck und traf dort Engel an, die sie gerade töteten. Ich wollte sie aufhalten aber sie hielten mich fest und versuchten mich zu beruhigen. 'Keine Angst, Kleines, der böse Dämon ist gleich weg', 'Sie kann dir nichts tun'"
Lilith schnaubte bitter. "Als ob Viper mir je etwas getan hätte. Als ob sie mir etwas hätte tun können, so klein und am Ende wie sie war. Aber das interessierte die Engel nicht. Sie brachten sie um und sahen auch noch so aus, als ob ich mich bei ihnen bedanken sollte. Für den Tod meiner Freundin? Da konnten sie lange warten. Ich schrie sie an 'Mörder!'. Sie hielten mich für verrückt und brachten mich nach Hause. Meine Mutter sperrte mich ein, als Strafe für die Schande die ich ihr bereitet hätte. In mir wuchs der Wunsch alles und jeden zu beschützen und niemals mehr so etwas wie mit Viper zu erleben"

Die Geschichte berührte Luca auf seltsame Art und Weise, denn es erinnerte ihn leicht an seine Vergangenheit, doch er schob den Gedanken wieder beseite. Er dachte sehr unger darüber nach und er hatte auch noch nie ein Wort darüber erwähnt.
Er senkte leicht den Kopf und antwortete ruhig, aber mit einer gewissen fast schon Berührtheit in der Stimme:" Ich verstehe. Deshalb also dieser Beschützinstinkt und das Familienoberhaupt, aber warum gibt es eigentlich bei so einer Persönlichkeitsspaltung auch Männliche oder ist das einfach der kleine Teil in dir gewesen, der eben männliche Züge hatte?"
Er sah schlagartig wieder auf, genau in ihre Augen.
Es war noch eine Frage, die ihn beschäftigte. Bei Lucy war es das nicht mit ihr spielen, bei Lilith das Alleingelassen werden von ihrer Mutter und der Tod ihres Vaters, bei Rose der verstorbene Freund und bei Kyle das Mädchen Viper. Eine fehlt noch....

Sie erwiderte seinen Blick. "Ich weiß nicht wieso Kyle männlich ist. Vermutlich dachte ich damals, dass ich als großer starker Mann die Menschen die mir wichtig sind besser beschützen kann, als als kleines schwaches Mädchen. Voruteile, ich weiß, aber ich war damals noch so jung."
Lilith pausierte und dachte nach. "Aber vielleicht lag es auch an meinem Vater. Er war auch immer so- ein Beschützer, voller Wärme. Er war mein Vorbild"

"Stimmt, das könnte durchaus eine Erklärung sein."
Luca griff sich mit einer Hand an die Schläfe und massierte diese kurz, bevor er sie wieder auf seine Schoss sinken ließ.
Fast schon mit einem Flüstern fragte er vorsichtig:" Und wie war das bei Diana?"
Nun war er fast ganz im Bild über die Persönlichkeiten von Lilith, deren Vergangenheiten und deren Charakter, wie auch der Grund für ihre Abspaltung von Lilith.
Es war für ihn durchaus interessant, doch er konnte sich gar nicht ausmalen, wie schrecklich es sein musste, immer so "geteilt" zu leben. Natürlich hatte es einen Vorteil, man war nie allein, aber trotz allem musste es nicht immer leicht sein, vor allem, wenn trotz Kyle gespannte Situation herrschten oder wenn zwei kurz vor einem Streit standen. Durch das andauernde Beieinandersein von so unterschiedlichen Charakteren, die doch alle einmal Lilith waren, musste das Zusammenleben nicht sehr einfach sein.

Diana...Lilith erschauderte. "Es ist keine schöne Geschichte." Sie stoppte kurz und lachte bitter "Aber das waren die anderen auch nicht" Kurz dachte sie nach, wie sie beginnen sollte, bevor sie anfing zu sprechen. "Nach dem Tod von Viper, dem Tod von Alex und schlussendlich sogar dem Tode meines Vaters, glaubte ich nicht mehr Leid zu ertragen. Es schien, als ob alle die ich liebte früher oder später den Tod fanden. Ich wollte nichts mehr fühlen. Keinen Schmerz mehr, keine Trauer mehr, keine Reue. Ich wollte nichts mehr fühlen, damit ich nicht verletzt werden konnte. Eiskalt und stark. Eine gefürchtete Kriegerin, sodass niemand auch nur in meine Nähe wollen würde. Jeder würde sich fürchten, mich sogar hassen, aber ich wäre sicher und sie wären sicher vor mir"

"Also spaltete sich Diana sozusagen durch den gemeinsamen Schmerz ab, der dich von innen zerstörte und sie sollte sozusagen als eiskalte Kämpferin dich vor all dem beschützen. Verstehe..."
Er machte eine längere Pause, atmete ruhig ein und überlegte angestrengt.
"Hast du eigentlich als Scherbenengel auch eine besondere Fähigkeit oder nur die grundlegenden Fähigkeiten, wie jeder Scherbenengel?" Er fragte wieder vorsichtig und ruhig, wie schon zuvor.

Lilith sah ihn an. Ihre Miene war unergründlich. "Ich glaube Diana erwähnte es. Wie du sagtest, grundlegend kann ich magische Scherben heraufbeschwören und schleudern. Speziell...besitze ich den Seelenspiegel" Sie flüsterte beinahe.
Dieses furchtbare Ding...ich wollte es niemals haben.

"Verzeih mein Unwissen, aber was passiert, wenn ich in diesen "Seelenspiegel" hineinschaue?"
Er sah sie fragend und mit einer Unwissenheit an, denn von dieser besonderen Fähigkeit hatte er eigentlich noch nie gehört.
Stimmt Diana hatte zuvor soetwas ähnliches erwähnt, aber in dem Moment habe ich mich nicht wirklich darauf konzentriert.
Luca sah fast schon zu einer Statue erstarrt in das vom Wind und den Wellen bewegte Wasser, doch seine Augen wirkten leer. Erst nach einiger Zeit wanderte sein Blick wieder zu Lilith.

Lilith schluckte und schüttelte den Kopf "Sieh da bloß nie hinein! Im Seelenspiegel sieht man seine Seele, so wie sie wirklich ist. Wer zu lange hineinsieht, verliert seine Seele an den Spiegel und damit an den Scherbenengel dem er gehört. An mich also"
Sie wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn Luca oder irgendjemand anderes in diesen Spiegel sah.
Es war grausam! Sie wollte niemandem die Seele rauben.

"Du brauchst mir diesen seltsamen Spiegel ja nicht zeigen, dann passiert mir auch nichts."
Luca wollte sich gar nicht vorstellen, wie seine Seele wohl aussehen mochte. Vermutlich war sie blutrot vor Rache oder auch tiefschwarz aus Bosheit und Traurigkeit. Er wusste es nicht, wollte es aber auch nicht wissen, denn seine Seele an einen Spiegel zu verlieren war nicht unbedingt der Weg, wie er sich das Sterben vorgestellt hat.
Wenn ich doch nur kein Racheengel wäre und wenn Lilith kein Scherbenengel wäre, es wäre so viel einfacher....
Er senkte seinen Kopf und sein absolut leerer Blick glitt über die Sandkörner, während er tief ein- und ausatmete.

Besorgt blickte Lilith ihn an und berührte ihn zaghaft an der Schulter.
"Was ist los, Luca?", fragte sie ihn vorsichtig. Sein leerer Blick erschreckte sie.
Was wohl in ihm vorging? Warum waren seine Augen so ohne jede Regung?

Er hatte mit der Berührung nicht gerechnet und zuckte für eine Millisekunde zusammen, doch sofort bevor auch Lilith wegschreckte nahm er ihre Hand kurz, ließ sie aber sofort wieder los.
"Tut mir Leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich denke nur gerade daran.....", er begann zu stottern und wusste nicht genau, wie er es ausdrücken und ob er es überhaupt sagen sollte, "daran, wie unterschiedlich wir beide eigentlich sind und wie viel Gemeinsamkeiten wir auf der anderen Seite wieder haben. Das ist...ich muss sagen äußerst interessant."

Der kurze warme Druck seiner Hand tat seltsam gut. Lilith konzentrierte sich wieder auf seine Worte.
"Ich habe seit meinem Zerbrechen mit kaum jemandem geredet. Überhaupt mit jemanden zu reden, ist
schon eine große...nicht Erleichterung aber es tut gut. Gerade weil wir, wie du sagtest, so verschieden und
doch so gleich sind. Kaum jemand versteht Racheengel und Scherbeengel. Interessant was passiert, wenn zwei
von ihnen aufeinander treffen"

"An genau dasselbe habe ich auch gerade gedacht. Eigentlich zwei Arten die sich bekämpfen, aufeinander losgehen, aber doch die gleichen Außenseiter der Gesellschaft sind und denen man die gleiche, sag ich mal, verletzende Angst entgegenbringt, als wäre man ein Monster, solange bis man es tatsächlich glaubt, obwohl wir auch nur Engel sind, wie die anderen."
Er lächelte in sich hinein. Der kurze Händedruck, diese Berührung war so....anders gewesen. Er wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte.
Luca freute sich darüber, dass sie mit jemandem über alles reden konnte und dass genau er, Luca der Racheengel dieser Jemand war, doch gleichzeitig, so sehr es auch versuchte kämpfte die Rache mit ihm die ganze Zeit über. Immer wieder waren die abwertenden Schreie in seinem Kopf Scherbenengel... zu hören, doch er ignorierte sie einfach, denn er wusste, Lilith war anders, ganz anders, als der Scherbenengel, den er kannte. Ihm war aber ebenso klar, dass er es nie Lilith erzählen konnte, denn sie würde ihm diesselbe Angst entgegenbringen wie alle anderen, denn es war einer ihrer Art, der ihn zum Fall brachte.

"Monster...das trifft es", murmelte Lilith. Sie sah auf, Bitterkeit in ihren Augen.
"Das waren die ersten Worte die mir meine Mutter entgegenschleuderte, als ich vor ihr stand, die Flügel in allen Regenbogenfarben schillernd. Nicht 'Was ist mit dir passiert' oder 'Wie kann ich dir helfen', nein, 'Monster'. Das bin ich für sie jetzt und deshalb wird sie niemals versuchen mich zu retten"

Luca sagte eine Weile nichts, nachdem sich Lilith geäußert hatte. Erst nach langer verstrichener Zeit meldete er sich ruhig, neutral zu Wort.
"Geht die eine Tür zu, öffnet sich später vielleicht eine andere."
Diese Worte ließ er zuerst wirken, bevor er fortfuhr. Diesmal sah er sie wieder an, mit belebteren Augen als zuvor.
"Es wird andere geben, die dich retten. So viel Kraft, wie du hast, bin ich überzeugt davon, dass du die richtige Person finden wirst und ich bin mir auch sicher, dass diese dir die Hilfe nicht verwähren wird. Meistens merkt man das schon auf den ersten Blick, wer das Leben später noch stark beeinflussen wird im positiven Sinn, man spürt es irgendwo tief in sich, obwohl man es im Verstand vielleicht noch gar nicht wahrhaben will. Genauso wird es bei dir sein. Irgendwann einmal begegnest du ihm oder ihr und du wirst es sofort in deinem Herzen wissen, dass er oder sie, der bzw. diejenige ist der oder die dir helfen wird."
Seine Stimmbänder rissen wieder ab und er sah sie für einen kurzen Moment genau an, bevor er ihren Augen wieder auswich.

Lilith dachte über seine Worte nach. Er hatte Recht auf eine Art und Weise. Und tief in ihrem Innerengab es eine verräterische
kleine Stimme, die ihr zuflüsterte, dass dieser Jemand genau vor ihr saß. Sie schüttelte leicht den Kopf um sich von diesem
absurden Gedanken abzulenken. Ein Racheengel dessen Vergangenheit von einem Scherbenengel zerstört worden war, sollte
ausgerechnet SIE retten? Das war doch sehr unwahrscheinlich. Aber Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und so glomm der winzige Funke der Hoffnung in ihr weiter.

Lucas Haltung veränderte sich, sie wurde aufrechter und erneut fielen ihm einige Fragen ein.
"Ich verspreche dir, es werden die letzten Fragen sein, mit denen ich dich belästige zu deinem Wesen und deinen Persönlichkeiten, aber du bist irgendwie....", er begann kurz zu stottern, doch ihm fiel ein Wort ein, dass nicht zu viel über seine momentanen Gedanken gänge verriet, "...sehr interessant."
Er formulierte seine Frage:" Also du bist meistens da, also an der "Oberfläche", Lucy kommt, wenn du Spaß hast oder es etwas zu spielen gibt, Diana, wenn eine Bedrohung oder Gefahr irgendwo auf dich lauert, Rose, wenn du in unendliche traurige Welten abstürzt. Stimmt das bis jetzt? Das einzige, was ich noch nicht weiß, ist wann Kyle kommt."
Er sah sie wieder interessiert an.

Sie lächelte matt "Interessant? Das ist eine neue Sichtweise meines Wesens. Aber ich beantworte dir gerne die Frage"
Kurz pausierte sie, leicht schmunzelnd, bevor sie fortfuhr "Kyle kommt immer wenn es gilt jemanden zu beschützen. Oder
wenn ich bzw. wir jemanden neuen treffen, um einzuschätzen ob dieser jemand uns gut tut. Er ist eine Art Vater und deshalb
fühlt er sich für uns verantwortlich. Wie ein richtiger Vater eben" Lilith pausierte kurz, wurde leicht rot und erklärte dann
"Bevor jemand mir nahe kommen darf muss er den Test von "Daddy" bestehen"

Luca sah kurz auf den Boden, hielt sich zurück, doch plötzlich musste er lachen.
"Die Formulierung gefällt mir, die gefällt mir wirklich gut."
Er biss sich auf die Lippe um sein Lachen wieder zu unterdrücken, denn es war auf keinen Fall unhöflich gemeint, nur fand er die Audrucksweise von Lilith auf eine gewisse Art und Weise süß.
Hatte er gerade wirklich süß gedacht? Er besann sich wieder auf das Wesentliche und war sich momentan nicht wirklich sicher, was mit ihm los war oder genauer gesagt, was mit seinen Gefühlen los war.